ANTJE KAPUST/ BERNHARD WALDENFELS (HG.) (FINK-VERLAG)

KUNST. BILD. WAHRNEHMUNG. BLICK. MERLEAU-PONTY ZUM HUNDERTSTEN

Zeit seines Lebens ist Merleau-Ponty vom Motivkomplex „Kunst – Bild – Wahrnehmung – Blick“ heimgesucht worden. Bereits die Hauptwerke „Phänomenologie der Wahrnehmung“ und „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ haben ihn zu diesem philosophischen Ringen prädisponiert. Aber auch die in „Das Auge und der Geist“ sowie „Die Prosa der Welt“ versammelten Schriften zeugen von dieser Obsession, die in weiteren Texten zu Kino und Literatur, Kunst und Sehen ihren Widerhall findet.

I) KUNST


Bereits die intensive Studie zu Paul Cézanne macht deutlich, inwiefern eine phänomenologische Befragung die üblichen Ästhetiken überschreitet. Diese Innovation blieb nicht ohne Resonanz, lassen sich doch sogar in der Minimal Art bis hin zu Künstlern wie Frank Stella, Robert Rauschenberg und Jasper Johns Spuren dieser Reflexion finden. Die nachfolgende Kontrastierung einer Passage aus der „Prosa der Welt“ mit einer Selbstbeschreibung von Bill Viola kann die feinen Affinitäten sichtbar werden lassen. So charakterisiert Merleau-Ponty die Verwandlung des Sichtbaren in Kunst mit folgenden Worten:

„Gegeben sind Organismen, Objekte oder Fragmente von Objekten, die in ihrer Umgebung fest verankert sind, jedes an seinem Platz, indessen an der Oberfläche von einem Netz von Vektoren durchzogen sind und in der Tiefe durch ein Gewimmel von Kraftlinien verbunden; der Maler aber wirft die Fische fort und behält das Netz zurück. Sein Blick fängt Entsprechungen, Fragen und Antworten ein, die in der Welt nur dumpf angedeutet und stets durch die Stumpfheit der Dinge erstickt sind, er entbindet sie, befreit sie und sucht für sie einen wendigeren Leib [Metensomatose der Kunst: was wird übertragen (Randnotiz)]. Gegeben sind im übrigen Farben und eine Leinwand, die teilhaben an der Welt; er entledigt sie plötzlich ihrer Gebundenheit: die Leinwand und selbst die Farben bleiben, weil sie auf geheimnisvolle Weise ausgewählt und zusammengesetzt worden sind, für unseren Blick nicht mehr dort, wo sie sind; sie bilden ein Loch in der Fülle der Welt, sie werden – wie Quellen oder Wälder – zum Erscheinungsort von Geistern, sie sind nur noch da als ein Minimum an Materie, dessen ein Sinn bedarf, um sich zu offenbaren [Das Imaginäre haust in der Welt (Randnotiz)].“ (PW 69)

Ähnliche Evokationen finden sich bei Bill Viola: „A.K. Coomaraswamy, ein großer Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, sagte einmal, dass jede Kunstform vor allem das Unsichtbare abbilde. Aus diesem Grund besitzen Kunstwerke die Fähigkeit, uns über große Entfernungen hinweg im Hier und Jetzt zu berühren. Die unsichtbare Welt, die uns umgibt, ist wie ein verborgenes Netz aus Verbindungen. Wir leben darin wie Fische im Wasser, und wie das Wasser ist diese Umgebung für uns zwar durchscheinend, fremd und unsichtbar, aber dennoch lebenswichtig.“

II. BILD


Von zentraler Relevanz für die Reflexionen zur Bildtheorie war Paul Cézanne. Doch auch andere Künstler wie Paul Klee, Van Gogh, Renoir, Tintoretto, Matisse und viele mehr standen im Fokus der Reflexionen, welche die kunsttheoretischen Erörterungen zur Bild- und Kunstwerktheorie von Edmund Husserl, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre oder André Malraux hinter sich ließen. In Fortführung der Aufgabe, die Erfahrung zur „Aussprache ihres eigenen Sinnes“ zu bringen (Husserl), war bildnerisches Schaffen nun das Paradox eines kreativen Ausdrucks, den Merleau-Ponty in Anlehnung an Proust herausarbeitet. Dieser hatte die Ausdruckskraft des literarischen Schreibens mit folgenden Worten charakterisiert: „Reden und Schreiben bedeutet, eine Erfahrung zu übersetzen, die doch erst zum Text wird durch das Wort, das sie selbst wachruft.“ (PW 66) Der kreative Aspekt beruht darin, dass es weder einen „Urtext“ gibt, der von der Lektüre einfach vorgefunden und entfaltet wird, noch einen Text, der lediglich durch die Lektüre hervorgebracht wird. Auch hier scheut Merleau-Ponty keine Herausforderung, so wenn er Cézanne sagen lässt, „die Landschaft denkt sich in mir und ich bin ihr Bewusstsein“, er das Aufsteigen des Sichtbaren als „Keimen“ und als „zur Geburt kommen“ beschreibt oder die Verwandlung des geometrischen Raumes in die Räumlichkeiten des wilden Seins darlegt usw.

Merleau-Ponty greift auf die von Malraux über Renoir berichtete Episode zurück: dieser ist zunächst in die Kontemplation des Meeres versunken, bis er schließlich den Pinsel ergreift, um die Wäscherinnen des Baches zu malen. In diesem Akt spiegelt sich der Übergang von der Ordnung der Gegebenheiten zur Ordnung des Ausdrucks: „Das Blau des Meeres war zum Blau des Baches der Wäscherinnen geworden […]. Sein Blick war weniger eine bestimmte Art, das Meer zu betrachten, sondern eher die verborgene Elaboration einer Welt, der gerade dieses tiefe Blau angehörte, das er bis ins Unermeßliche steigerte.“ (PW 83) Dieser von Renoir realisierte Übergang war möglich, weil er nicht in der Dimension eines „selbstverständlichen Wahrnehmens“ verblieb, sondern diese überschritt und dem “ […] Meer nur abverlangt, es möge zeigen, wie es die flüssige Substanz interpretiert, wie es sie sichtbar macht […] wegen einer Typik der Erscheinungsweisen des Wassers.“ (ebd.) Jedes Fragment der Welt entfaltet eine „unbegrenzte Anzahl von Gestalten des Seins“. Spuren hat dieses Denken auch in den Theorien zu Film und Kino sowie zur Kinderzeichnung und zur bildnerischen Darstellung von Patienten gefunden. Eine Erprobung dieser Philosophie mit den gegenwärtigen Medien müsste noch genauer ausgearbeitet werden. Ein Echo fanden sie bereits in den Theorien von Didi-Huberman, Nancy, Baudrillard, Virilo, Derrida, Foucault und Deleuze u.a.

III) WAHRNEHMUNG


Die außerordentlichen Potenziale und Mehrleistungen des Sehens spielten immer eine ungewöhnliche Rolle bei der Transformation des Sichtbaren. Auf diese Weise wird die Wahrnehmung nicht nur aus ihrem metaphysisch überlieferten klassischen Skelett befreit, sondern extrem in ihrem eigenen Enigma freigelegt: "Wir sehen die Tiefe, das Samtene, die Weichheit, die Härte der Gegenstände - Cézanne meinte sogar: ihren Duft."

Das Unsichtbare ist nicht einfach die Kehrseite des Sichtbaren eine Bestimmung, die auch in Jacques Derridas „Aufzeichnungen eines Blinden“ wiederkehrt. Das Spätwerk, das eine nach-cartesianische Ontologie auszuarbeiten versucht, konfrontiert uns daher mit äußerst herausfordernden Aussagen wie „Das Sichtbare ist aus dem Berührbaren geschnitzt“, das „Sichtbare sitzt auf dem Fleisch der Dinge wie der Vogel auf dem Ast“ oder das „Sichtbare ist verstreut“. Das einfache Gegebene ist dabei immer schon mehr, wie Merleau-Ponty bereits sehr früh, nämlich in seinen Radiovorträgen 1948 in Anlehnung an die Dichtung von Francis Ponge bemerkt: Ein „Wahrnehmungsobjekt“ wie das Wasser zeigt sich wohl weniger in seinen beobachtbaren Eigenarten und Prädikaten, als vielmehr in seiner Elementarität, die der französische Dichter Francis Ponge folgendermaßen beschreibt:

„Es ist weiß und glänzend, formlos und frisch, passiv und auf ein einziges Laster versessen: die Schwerkraft. Über außergewöhnliche Mittel verfügt es, um diesem Laster zu frönen: Umfließen, Durchdringen, Aushöhlen, Durchsickern. Auch in ihm selbst wirkt dieses Laster: unablässig sackt es zusammen, entwindet sich augenblicks jedweder Form, strebt nur nach Erniedrigung, legt sich flach auf den Boden, fast ein Kadaver, wie die Mönche bestimmter Orden […]. Man könnte fast sagen, das Wasser sei wahnsinnig, aufgrund dieses hysterischen Drangs, nur seiner Schwerkraft zu gehorchen, von dem es besessen ist wie von einer Zwangsvorstellung […] Flüssig heißt, […] was alle Haltung verliert, wegen dieser Zwangsvorstellung […]. Unruhe des Wassers: empfindlich für den geringsten Neigungswechsel. Hüpft die Treppe mit beiden Beinen zugleich hinunter. Verspielt, kindisch vor Gehorsam, kommt gleich, wenn man es ruft, und ändert dabei das Gefälle auf dieser Seite hier.“

IV) BLICK


Die zunehmende Geometrisierung und Rationalisierung des Sehens wird auch unter dem Stichwort des Blicks subversiv unterlaufen. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei die Figur des Chiasmus ein, die sich durch alle Register des Seins durchzieht und die sogar in der einfachen Überkreuzung von Blicken einen geheimnisvollen Mehrwert zutage treten lässt: „Niemand könnte frei denken, wenn seine Augen nicht von anderen Augen loskämen, die ihnen folgten. Sobald sich die Blicke begegnen, ist man nicht mehr ganz und gar zu zweit, und es wird schwierig, allein zu bleiben. Jener Austausch verwirklicht, wie schon der Name sagt, in einer sehr kurzen Zeit eine Umstellung, eine Metathese: einen Chiasmus zweier „Schicksale“, zweier Gesichtspunkte. Dadurch kommt es zu einer Art simultaner wechselseitiger Begrenzung. Du nimmst mein Bild, meine Erscheinung, ich nehme die deine. Du bist nicht ich, da du mich siehst und ich mich nicht sehe. Was mir fehlt, ist jenes ich, das du siehst. Und was dir fehlt, bist du, den ich sehe. Und wenn wir, bevor wir voneinander Kenntnis nehmen, im selben Maße, wie wir uns reflektieren, andere sein werden.“ Kontrastiv haben die Blickanalysen von Jean-Paul Sartre, Jacques Lacan, Roland Barthes usw. zu einem Eigengewicht dieses Themas beigetragen.

Bahnbrechend für diese neuartige Ontologie von Fleisch und Tiefenraum sind auch die kritischen Überlegungen zu einer Perspektivik, die die Stillstellung des wilden Blicks in einem domestizierten Sehen festschreibt, so dass Verschiedenes aus einem einheitlichen Blickstrahl heraus gleichgesetzt wird. Merleau-Ponty verknüpft dabei nicht nur die klassische Philosophie mit der Kunst, sondern setzt gleichzeitig eine ganze Schulphilosophie mit ihren Paradebeispielen zur Perspektivlehre und Wahrnehmungslehre außer Kraft:

„Anfangs machten sich die Dinge meinen Blick streitig, und während meine Augen an einem von ihnen haften blieben, spürte ich den Anspruch, den die anderen meinem Blick entgegenbrachten und der sie alle mit ersterem koexistieren ließ. Ich war jeden Augenblick beschäftigt mit der Welt der Dinge und überflutet von einem Horizont sichtbarer Dinge, die inkompossibel waren mit dem, was ich aktuell ins Auge fasste, die aber gerade dadurch mit diesem gleichzeitig waren. Nun aber konstruiere ich eine Darstellung, in der jedes aufhört, die ganze Schicht für sich zu beanspruchen, in der ein jedes den anderen Zugeständnisse macht und darin einwilligt, nicht mehr Raum auf dem Papier einzunehmen, als ihm von den anderen überlassen wird.“ (PW 74) Damit erweist sich die Perspektive als „stillgesetzter Blick“, als Konstruktion einer Wirklichkeit und als „Erfindung einer beherrschten Welt“, wo alles in einem System seinen Platz gefunden hat (PW 75).

Ließe man die Ahnengalerie der Denker der abendländischen Ideengeschichte Revue passieren, so fände sich sicherlich für die meisten Vertreter ein Stichwort, das ihren Wiedererkennungswert verbürgt. So kennen wir Platon als Erfinder des Höhlengleichnisses, Descartes als Denker des cogito ergo sum, Hobbes als Denker, der den Menschen als Wolf beschreibt, Kant als Erfinder der Transzendentalphilosophie, in der sich die Dinge nach unserer Erkenntnis richten und Kierkegaard als Philosophie der Glaubensparadoxien. Merleau-Ponty wird in die Geschichte sicherlich als Denker des Sichtbaren und des Unsichtbaren eingehen. Der Jubiläumsband soll nicht nur die innovativen Vorstöße würdigen, sondern die Kraft ihrer durch den frühen Tod unterbrochenen Gedankengänge sinnvoll und produktiv für neue Analysen zu dieser komplexen Thematik öffnen.